Gibt es wirklich einen Fachkräftemangel in der IT? Ein paar Zahlen und Meinungen

“86.000 offene Stellen für IT-Fachkräfte” titelte kürzlich der Digitalverband Bitkom in einer Pressemitteilung. Und Schlag auf Schlag heißt es dann : “Corona-Krise dämpft Fachkräftemangel nur vorübergehend ab” Lassen Sie uns einmal kurz Fakt und Meinung in diesem Artikel trennen.

Zu den Fakten

  • Die Mitteilung wurde auf Grundlage einer telefonischen Unternehmensumfrage produziert. Befragt wurden 853 Geschäftsführer und Personalverantwortliche.
  • Diese Umfrage wird seit 2011 jährlich durchgeführt.
  • In 2019 wurden 124.000 freie Stellen “gemessen”, das sei ein “historischer Höchststand” gewesen.
  • Ende 2020 sind gemäß Bitkom 86.000 Stellen für “IT-Experten” frei gewesen, also 31% weniger als im Vorjahr.

Einige Fragen, die sich bei der Lektüre der Mitteilung stellen

  • Wie genau wird die Anzahl freier Stellen zuverlässig aus einer Telefonumfrage abgeleitet?
  • Was ist ein “IT Experte” gemäß Definition der Bitkom? Es ist klar, dass die Zahl der offenen Stellen umso höher ausfällt, je breiter dieser Begriff gefasst wird.
  • Ist es angemessen und hilfreich, angesichts einer noch ziemlich jungen Erhebung seit 2011 von “historischen Höchstständen” zu sprechen?
  • Auch wenn gute Argumente dafür sprechen mögen: Woher nimmt die Bitkom die Gewissheit, dass die Corona Krise den Fachkräftemangel in der IT “nur vorübergehend dämmt”, wo doch die Krise in keiner Weise bereits beendet und eine Rückschau daher aktuell gar nicht möglich ist?

Fachkräftemangel wird nicht nur in der IT heiß diskutiert

Was hat es mit der Bitkom auf sich und warum ist etwas Zurückhaltung angebracht?

Der Artikel richtet sich nicht gegen die Bitkom. Die Bitkom ist ein Verband, der sich für die Digitalisierung von Wirtschaft, Gesellschaft und Verwaltung einsetzt. Das sind wichtige und sinnvolle Ziele.

Die Bitkom ist ein Interessenverband und hat als solcher natürlich alles Recht der Welt, die Ergebnisse von Umfragen auf eine Weise zu interpretieren, die ihre Eigeninteressen fördern. Laut Selbstbeschreibung geht es der Bitkom auch um die so wörtlich “politische Flankierung”.

Was kann man sich unter einer solchen “politischen Flankierung” vorstellen? Die durch Bitkom vertretenen Unternehmen haben ein natürliches Interesse an qualifizierten und nach Möglichkeit auch günstigen Arbeitskräften.

Je größer der gefühlte Mangel ist und umso lauter dieser kundgetan wird, desto größer die Chance, dass politische Entscheidungsträger die Rufe hören und entsprechende Maßnahmen einleiten – wie z.B. die Schaffung neuer Studiengänge oder vereinfachter Zugang zum Arbeitsmarkt für ausländische Fachkräfte

Insofern darf man bei einer Pressemitteilung auch erwarten, dass die Großwetterlage im Zweifelsfall eher dunkel gezeichnet wird. Das ist Teil der Arbeit von Interessenverbänden und in einem gewissen Rahmen auch ethisch vertretbar.

Ein bisschen Lärm gehört eben dazu.

Schwierig wird es nur, wenn allerhand andere Medien die Meldung ungefiltert aufgreifen und weitergeben.

So übernimmt etwa Springer Professional ohne kritisches Hinterfragen die Aussage, dass die Corona Pandemie den den IT-Fachkräftemangel “nur wenig dämpft.”

Ein Rückgang von 31% innerhalb eines Jahres ist also wenig?

Darunter ist in einer Grafik überlebensgroß die Zahl 86.000 abgebildet, was natürlich auch impliziert, dass die Zahl der unbesetzten Stellen das wichtigste Maß für den propagierten Fachkräftemangel ist.

Springer Professional hat es sich offenbar einfach gemacht und nicht nur die Zahlen, sondern direkt auch die Interpretation von der Bitkom übernommen.

Gut für die Bitkom. Schlecht für alle, die an mehr Hintergrund interessiert sind.

Springer Professional gehört zu Springer Nature, einem der größten Wissenschafts- und Fachverlagsgruppen der Welt. Man darf hier eigentlich einen kritischen Umgang mit Zahlen erwarten.

Wann genau liegt eigentlich ein Fachkräftemangel vor?

Gemäß Wikipedia bezeichnet Fachkräftemangel einen Mangelzustand, in dem eine bedeutende Anzahl von Arbeitsplätzen für Arbeitnehmer mit bestimmten Qualifikationen nicht besetzt werden kann, weil auf dem Arbeitsmarkt keine entsprechend qualifizierten Fachkräfte zur Verfügung stehen. Anzeichen für einen Fachkräftemangel können etwa überdurchschnittliche Steigerungen der Arbeitsentgelte eines Fachgebiets sein.

Es ist interessant, dass Wikipedia beispielhaft die Steigerung der Gehälter als Indikator eines Fachkräftemangels nennt, nicht aber die absolute Anzahl offener Stellen.

Warum? Offene Stellen sind primär ein Ausdruck von Fluktuation und nicht von Mangel. Ralf Beckmann aus dem Bereich Statistik der Bundesagentur für Arbeit sagt dazu „Eine Zahl über offene Stellen sagt noch lange nichts über einen Fachkräftemangel aus.“

Jemand geht, ein Neuer muss gefunden werden. Je größer ein bestimmter Teilbereich des Arbeitsmarktes ist, umso mehr offene Stellen gibt es zwangsläufig – sogar dann, wenn kein struktureller Mangel an Arbeitskräften vorliegt.

Wenn die Bitkom daher posaunt, dass die Zahl der offenen Stellen im IT Bereich einen “historischen Höchststand” erreicht habe, kann dies zunächst auch einfach nur Ausdruck der insgesamt gewachsenen Branche sein.

Der Kuchen ist insgesamt größer geworden. Das belegen auch klar Daten von Statista:

In 2019 waren rund eine Millionen Menschen in der IT beschäftigt. 10 Jahre früher waren es noch rund 40% weniger. Die Branche ist größer geworden, die Zahl der offenen Stellen hat zugenommen. Die Bitkom hätte also auch schreiben können:

“Die Zahl der Beschäftigten in der IT Branche hat 2019 einen historischen Höchststand erreicht. Die Zahl der offenen Stellen hat ebenfalls einen historischen Höchststand erreicht.”

Aber das hätte wahrscheinlich weniger Klicks erzeugt.

Deutet die Entwicklung der Gehälter auf einen Fachkräftemangel hin?

Die Zahl der offenen Stellen ist also kein guter Indikator, um einen Fachkräftemangel feststellen zu können. Kommen wir noch einmal auf Wikipedia zurück: “Anzeichen für einen Fachkräftemangel können etwa überdurchschnittliche Steigerungen der Arbeitsentgelte eines Fachgebiets sein.”

Warum ist das so? Das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Wenn ein echter Mangel vorliegt, übersteigt die Nachfrage das Angebot und der Markt versucht dies mit höheren Preisen, bzw. im Falle von Arbeitskräften mit höheren Löhnen zu kompensieren.

Wie haben sich die IT-Gehälter also entwickelt?

Hier einmal tabellarische Gegenüberstellung von Gehältern wichtiger IT Rollen in 2015 und 2019.

2015 / Euro 2019 / Euro Gesamtanstieg / % Anstieg p.a. / %
IT-Projektleiter 72440 72287 -0,21 -0,04
It-Sicherheitsexperte 70763 75577 6,80 1,36
SAP-Berater 69850 72893 4,40 0,88
IT-Berater 65040 72446 11,40 2,28
SAP-Entwickler 58000 65599 13,10 2,62
Mobile-Entwickler 54000 59760 10,70 2,14
System-/Netzwerkadmi... 51891 49284 -5,00 -1,00
Frontend-Entwickler 43200 50948 17,90 3,58
Anwender Support 42260 44745 5,90 1,18
Durchschnitt 58605 62615 6,80 1,36

Über einen Zeitraum von 5 Jahren hat das Gehalt des Frontend-Entwicklers mit knapp 17,9% am deutlichsten zugelegt. Dies ist ein durchschnittlicher Zuwachs von 3,58% pro Jahr.

Das Durchschnittsgehalt anderer Rollen ist deutlich weniger gewachsen oder hat sich sogar rückläufig entwickelt wie etwa beim System-/Netzwerkadministrator.

Der durchschnittliche Anstieg über alle Rollen liegt bei 1,36% pro Jahr (p.a.).

(Für Statistik-Liebhaber: Aus Gründen der Einfachheit wurden Zinseszinseffekte nicht berücksichtigt.)

Wie sah es im gleichen Zeitraum Deutschlandweit aus?

Hier ist zum Vergleich eine Statistik zur Gesamtentwicklung der Bruttolöhne in Deutschland, ebenfalls von Statista.

Hier die Zahlen von 2015 – 2019:

2015 2016 2017 2018 2019 Durchschnitt
Anstieg p.a. / % 4,2 4 4,2 4,8 4,1 4,3

Die Bruttolöhne in Deutschland sind also im Schnitt um 4,3% pro Jahr gewachsen! Der mittlere Zuwachs in allen Branchen ist also dreimal höher als in der IT-Branche!

Kritiker mögen nun einwenden, dass die oben genannten Rollen nicht vollständig repräsentativ für die IT Branche sind oder auch dass das ITler gehaltstechnisch von einem höheren Niveau starten als andere Branchen.

Letzterer Einwand ist korrekt. Es ändert aber nicht daran, dass bei einem massiven Fachkräftemangel der prozentuale Lohnzuwachs stärker ausfallen sollte als in anderen Branchen. Die vorliegenden Zahlen weisen in die andere Richtung.

Besetzungszeit (Time-To-hire) hat zugenommen

Die Besetzungszeit oder Time-To-Hire kann weitere Hinweise darauf geben, ob ein Fachkräftemangel vorliegt. Knapp 70% der Recruiter gibt an, dass sie für die Besetzung von IT Stellen heute länger benötigen als noch vor einigen Jahren.

Wenn es länger braucht, um geeignete Kandidaten zu finden, deutet das doch wohl auf einen sich verschärfenden Mangel hin?

Das ist eine mögliche und gern genannte Begründung. Neben diesen externen Faktoren lohnt sich aber auch der Blick auf interne Faktoren:

  • fehlende Ressourcen im Recruiting vieler Unternehmen
  • veraltete und starre interne Recruiting Strukturen, die nur langsam aufbrechen
  • keine oder mangelnde Erfassung von Kennzahlen, um transparent zu machen, welche Maßnahmen wie gut funktionieren

Zu guter Letzt sei auch die totale Fragmentierung des Stellenanzeigemarktes genannt. Wenn einer HR Abteilung der Unterschied zwischen Softwareentwickler und Softwareingenieur nicht ausreichend klar ist und daher kein korrekter Jobtitel gewählt wird oder große Jobportale keinen Versuch unternehmen, IT Skills aus der Beschreibung zu extrahieren – dann ist es für die Jobsucher auch einfach schwierig, die passende Ausschreibung zu finden.

Fazit

Gibt es nun einen Fachkräftemangel in der IT oder nicht? Das hängt von der Sichtweise ab.

Die entscheidende Frage ist doch: Welchen konkreten Nutzen hat das Label “Fachkräftemangel” für ein Unternehmen?

Aus psychologischer Sicht wirkt es vor allem lähmend. Es verweist auf einen großen externen Faktor außerhalb des eigenen Einflussbereiches.

“Es gibt einen Fachkräftemangel, also finden wir niemanden oder es dauert eben alles sehr lange.”

So klingt klingt Resignation. Aber dafür gibt es keinen Grund. Denn es gibt genügend Faktoren, die Recruiter kontrollieren und verbessern können.

Warum konzentrieren wir uns nicht darauf und überlassen das Gerede vom Fachkräftemangel den Politikern und Verbänden?